„Das Geschäft hat mich abgefuckt – hier erlebe ich wieder Spaß und Menschlichkeit“

Ex-„Regio“-Stürmer Shirdel: „Ich will Dersimspor hoch schießen“

01. April 2017, 01:04 Uhr

Geht ab sofort für Hansa-Landesligist Dersimspor auf die Jagd nach Toren und Punkten. Mohamed Josef Shirdel (vo., hier noch im Trikot des HSV II). Foto: KBS-Picture

Dersimspor hat einen echten Transfer-Kracher gelandet: Der Hansa-Landesligist verstärkt sich ab sofort mit Josef Shirdel. Der Stürmer war zuletzt vereinslos und stand bereits beim Auswärtsspiel gegen den Barsbütteler SV im Dersim-Kader. Zuvor spielte Shirdel nicht nur für die Reserve des Hamburger SV und den ETSV Weiche Flensburg in der Regionalliga, sondern stand nach Probetrainings auch schon auf dem Sprung zu den Blackburn Rovers, West Ham United und den Glasgow Rangers. Wir haben mit dem 23-Jährigen, der sich auch afghanischer Nationalspieler nennen darf, über sein Engagement bei Dersimspor gesprochen und von ihm zudem reflektierte und deutliche Worte zum Fußball-Geschäft gehört.

Eigentlich, so sagt er „wollte ich mich vom Fußball etwas zurückziehen.“ Aber daraus wird nun doch nichts. Nachdem er zuletzt vereinslos war, hat Mohamed Josef Shirdel, so der komplette Name des Stürmers, wieder einen Verein. „Ich habe für zwei Monate bei Dersimspor zugesagt“, berichtet der 23-Jährige, den sein Umfeld „Joe“ nennt. Zwei Monate sind eine relativ kurze Zeit. Und dass ein Spieler mit solchen Karrierestationen und -chancen wie Shirdel zu einem Club aus der Landesliga wechselt, gibt es nun auch nicht allzu häufig. Wie also kam es zum Engagement bei Dersim?

„Will mich nicht von Leuten leiten lassen, für die Aussehen und Glaube wichtiger als Können ist“

"Da wo ich helfen kann, helfe ich", steht für Shirdel (li.) Menschlichkeit im Vordergrund. Foto: KBS-Picture

Um das zu erklären, muss der 1,86 Meter große gebürtige Hamburger etwas weiter ausholen. Und es benötigt einen Blick auf seine bisherige Laufbahn: Seine Karriere begann Shirdel beim 1. FC Hellbrook. Es folgten Stationen beim HT 16 und in der Jugend beim FC St. Pauli und dem Hamburger SV. Er schaffte es sogar bis in die A-Junioren-Bundesliga. Schnell wurde klar: Shirdel hat enormes Talent. Bei den „Rothosen“ durfte er mit den Profis trainieren. Spielpraxis jedoch bekam er keine in der Bundesliga. Dafür aber immerhin EInsätze bei Testspielen mit der Bundesliga-Mannschaft und vornehmlich bei der HSV-Reserve in der Regionalliga. Als dann aber sein Vertrag beim HSV auslief, zerstritt sich Shirdels damaliger Berater mit dem Verein, so dass der Stürmer sich quasi gezwungenermaßen einen neuen Club suchen musste. Diese Suche verschlug „Joe“ nach England. Zu den Blackburn Rovers, wo er beim Zweitligisten mit den Profis trainierte. Dann wurde dann Erstligist West Ham United auf ihn aufmerksam.

West Ham wollte Shirdel zunächst jedoch an einen anderen Club weiter verleihen. Kandidat für einen Transfer: der namhafte schottische Club Glasgow Rangers. Die Rangers jedoch verpassten den Wiederaufstieg in die Erste Liga – und der Wechsel zerschlug sich. Shirdel trainierte zunächst wieder bei West Ham mit, ehe sich dann die Option Orlando City SC in den USA auftat. Dort trainierte er dann mit keinem geringeren als Ex-Weltfußballer Kaká. Von ihm, so Shirdel, habe er dann den Ratschlag bekommen „in meinem Alter nicht in die USA zu wechseln, wenn ich die Chance habe, in Europa Fußball zu spielen.“ Also ging's zurück zu West Ham United. Doch dort gab es im Sommer 2015 einen Trainerwechsel: Slaven Bilic löste Sam Allardyce ab. Unter Bilic durfte Shirdel erneut vortrainieren, musste dann aber zum Ende der Transferperiode einen neuen Verein finden: „Nach drei Transferphasen ohne festen Club wäre ich sonst für zwei Jahre gesperrt worden.“

„Ich möchte als Teil der Gesellschaft ein deutliches Zeichen setzen, sowas nicht zu tolerieren“

Vom Auftreten vieler Leute im "Geschäft Fußball" ist Shirdel (li.) enttäuscht. Foto: KBS-Picture

Shirdels Weg führte schließlich zum ETSV Weiche Flensburg, bei dem er bis zum Ende der Saison 2015/2016 spielte. „Nachdem ich mich mit Weiche nicht über eine weitere Zusammenarbeit einigen konnte, hätte ich nach Asien oder in die Dritte Liga wechseln können“, berichtet Shirdel, „aber ich wollte Ruhe und Zeit für meine Familie haben. Ich bin einfach enttäuscht vom Geschäft Fußball. Egal ob bei St Pauli, dem HSV oder in England, bei West Ham zum Beispiel,  sind Dinge passiert, die die menschliche Würde unterschreiten. Es geht nicht mehr um Qualität, sondern um deinen Namen und deine Religion. Für mich war klar: Ab dem Zeitpunkt, wo meine Religion, mein Glauben oder meine Haarfarbe wichtiger als mein Können sind, möchte ich mich nicht mehr von Leuten leiten lassen, die ein solches Bild von der Gesellschaft haben.“ Endgültiger Auslöser, sich aus dem Profi-Geschäft, in dem es zu selten menschlich zugehe, zurückzuziehen, sei dann das Geschehen um Änis Ben-Hatira gewesen.

Der Ex-HSV-Profi (Shirdel: „Ich kenne ihn ein wenig, weil wir den gleichen Personal-Coach haben“) wurde beim Bundesligisten SV Darmstadt 98 rausgeworfen, weil der Verein Ben-Hatiras privates humanitäres Engagement bei einer Hilfsorganisation, die der Verfassungsschutz der Salafisten-Szene zuordnet, nicht duldete. „Natürlich habe ich Fußball so weit oben gespielt, weil es Spaß macht und ich damit Geld verdienen konnte. Aber das Geschäft hat mich abgefuckt“, sagt Shirdel; „ich rede für viele Fußballer, die genauso denken – egal ob in England oder Deutschland –, aber sich vielleicht in die Hose machen, sowas auch öffentlich zu sagen. Ich möchte als Teil der Gesellschaft ein deutliches Zeichen setzen, dass ich es nicht toleriere, wenn Nationalität, Glauben oder Aussehen über Karrieren und die Zukunft von Menschen entscheiden. Das ist auch ein Zeichen an nachfolgende Fußball-Generationen, sich mit so etwas nicht einfach abzufinden.“

„Es ist schade, dass es überall immer wieder Vorurteile gibt, egal wie gut man sich integriert“

In den USA trainierte Shirdel (hier im HSV II-Dress) einst mit Ex-Weltfußballer Kaká zusammen. Foto: KBS-Picture

Zunächst also blieb Shirdel nach dem Ende der Zeit in Flensburg ohne Club. Im Juli 2016 absolvierte er ein Probetraining beim englischen Drittligisten Bolton Wanderers, wurde aber nicht verpflichtet. Danach reifte dann mehr und mehr der Gedanke, eben kürzer zu treten und sich mehr der Familie zu widmen. „Ein sehr guter Freund der Familie hat irgendwann dann zu mir gesagt: Dersimspor will aufsteigen, spiel doch da und geh' mit denen hoch. Das war eher ein Witz von ihm, weil er meinte: Die können dich sowieso nicht bezahlen...“, berichtet Shirdel. Doch aus dem Witz wurde Wahrheit. Dersimspor und Shirdel traten in Kontakt und einigten sich. „Er ist der Stürmer, der uns vorne drin gefehlt hat und nach dem wir so lange gesucht haben“, konstatiert Vorstandsmitglied Cüneyt Erbil, „wir freuen uns, dass er sich entschieden hat, jetzt erst einmal bei uns zu spielen.“

Eine Freude, die auch bei Josef Shirdel vorherrscht. „Dort wo ich helfen kann, da helfe ich gerne. Es geht mir um Menschlichkeit. Ich will Dersim hoch schießen. Ich will mithelfen, die realistische Chande, hoch zu gehen, zu nutzen“, umreißt der 23-Jährige seine Beweggründe, nun für den Verein von der Baererstraße auf die Jagd nach Toren und Punkten zu gehen. „Es gibt leider auch jetzt schon wieder Vorurteile. Einige fragen mich: Warum gehst du so einer Kanackenmannschaft? Viele halten das für einen Witz. Es ist schade, dass es – egal wie gut man sich integriert – trotzdem überall immer wieder Vorurteile gibt“, befindet Shirdel und ergänzt: „Bei Dersim gibt es alles: dunkelhäutige Spieler, deutsche Spieler und welche mit anderer Nationalität. Hier im Verein und der Mannschaft herrscht Multi-Kulti.
Hier ist es egal, wo du herkommst oder an was oder wen du glaubst. Hier erlebe ich wieder Spaß und Menschlichkeit. Ich sehe, dass ich mit den Jungs menschlich auf einer Linie liege und will mit ihnen die Ziele der Mannschaft erreichen.“

Jan Knötzsch