Oberliga

Ein „Zahnarztbesuch“ mit Schmerzen – für Dassendorf: „Das gibt‘s nicht – wie kann man hier gewinnen?!“

26. August 2023, 16:58 Uhr

Ekstatischer Jubel beim FC Türkiye nach dem Treffer zum 2:0. Sogar Keeper Tobias Braun (re.) eilt zur Feier herbei. Foto: Bode

Von einem „Zahnarztbesuch“ sprachen und schrieben die Verantwortlichen des FC Türkiye in ihrer Spielvorschau – wohl in Anlehnung an die aktuelle Personallage. Zu der komplizierten (Schulter-)Verletzung von Top-Torjäger Michel Netzbandt, der wohl noch bis zum Winter fehlen wird, gesellten sich nun auch noch Arlind Bedrolli (Kreuzbandanriss), Inan Türkad (Knorpelschaden) und Sahin Taflan (Muskelfaserriss) hinzu. Im Gastspiel bei der TuS Dassendorf (alle Highlights im LIVE-Ticker) fehlten zudem Mustafa Okur und auch Vitor Cadilhe Branco, so dass ein „Zahnarztbesuch“ mit großen Schmerzen zu befürchten war. Schmerzen gab es auch – aber am Ende nur, weil dem Serienmeister der Zahn gezogen wurde. Und wie!

Luis Hacker (li.) - hier im Duell mit Len Strömer - war ein starker Taktgeber im Mittelfeldzentrum der Wilhelmsburger. Foto: Bode

„Ich habe der Truppe gesagt: Wenn du hier was holen willst, dann muss ein Rädchen ins andere greifen und wirklich alles funktionieren. Das kannst du versuchen, ein bisschen über Einstellung und Bereitschaft zu steuern. Das haben die Jungs von der ersten Minute an den Tag gelegt“, schwärmte Daniel Sager – und hatte allen Grund dazu. Seine Mannschaft agierte mit einer ungeheuren Leidenschaft und Disziplin, unbändigem Willen und der totalen Bereitschaft, dass einer für den anderen durchs sprichwörtliche Feuer ging. Beeindruckende Wilhelmsburger!

„Eine klasse Leistung von den Jungs, wenn man bedenkt, dass uns ein paar Spieler, die eigentlich für die erste Elf vorgesehen sind, abhandengekommen sind. Wir hatten Spieler in der Mannschaft, die noch kein Oberligaspiel gemacht haben. Dafür haben die Jungs das richtig, richtig gut gemacht – Hut ab vor der Mannschaft“, war Sager voll des Lobes. Dabei gab er auch unumwunden zu, dass er das Spiel aus dem Vorjahr am Wendelweg „noch im Hinterkopf“ hatte. Damals gastierte ein gut in die Saison gestarteter FC Türkiye euphorisiert bei der TuS – und ging mit 1:7 baden. „Das war eine ganz andere Situation. Wir sind hergekommen, wollten mitspielen – und sind einfach überrannt worden. Die Mannschaft weiß, in welcher Lage wir uns jetzt durch die vielen Verletzten befinden, dass jeder 100 Prozent geben muss.“

Bektesi trotzt vergebener Chance und krönt seine Leistung

Martin Harnik (vo.) setzt zum Fallrückzieher an, trifft den Ball aber nicht voll. Sein Anschlusstreffer per Hacke kam letztlich zu spät für die TuS. Foto: Bode

Von Minute zu Minute wuchs der Glaube an eine faustdicke Überraschung. Als Albin Bektesi nach einem katastrophalen Fehlpass von Ashton Götz vom ackernden Mou-Inzou Bachir auf die Reise geschickt wurde, aber freistehend am glänzend reagierenden Christian Gruhne scheiterte und die Riesenchance zum 0:2 vergab (86.), schien eine alte Fußballer-Weisheit zum Tragen zu kommen. „Wenn du deine Chancen vorne nicht machst…“ Nicht so beim FC Türkiye. Und auch nicht mit Bektesi. Denn nur wenige Augenblicke später düpierte der „Flügelflitzer“ nach einem langen Huf von Martin Gyameshie den Dassendorfer Maximilian Ahlschwede, luchste ihm die Kugel ab und schweißte staubtrocken sowie unglaublich platziert aus 20 Metern ins rechte untere Toreck ein (88.)!

Harnik-Hacke lässt "Dasse" hoffen

Mou-Inzou Bachir (Mi.) bejubelt sein Führungstor für den FC Türkiye unmittelbar nach der Pause. Foto: Bode

Der Jubel bei den Wilhelmsburgern kannte keine Grenzen mehr. Und dennoch musste man am Schluss noch einmal zittern, weil die sehr statisch und immer verzweifelter agierenden Hausherren in der Nachspielzeit doch nochmal zurückschlugen. Per Hacke (!) brachte Martin Harnik das Runde im Eckigen unter (90. +1). In der fast sechsminütigen „Extrazeit“ bot sich Oliver Doege sogar noch die Möglichkeit zum 2:2 – doch der Abschluss war viel zu ungenau (90. +3).

Dass es überhaupt noch einmal spannend wurde, nachdem der starke und unheimlich emsige Bachir die Gäste unmittelbar nach der Pause nach einem Traumpass von Bektesi auf die Siegerstraße brachte (47.), war bis zu eben jener Nachspielzeit nicht abzusehen. „Wir machen uns das Leben so schwer“, haderte Dassendorf-Trainer Thomas Seeliger kurz vor der Halbzeit an der Seitenlinie. „Wir wollen einfach kein Tor machen! Da fehlt die Überzeugung“, tobte er in der 71. Spielminute.

"Haben sich in alles reingeschmissen und alles investiert"

Tobias Braun (li.) hat gut lachen - und tröstet Henrik Dettmann nach einer vergebenen Großchance. Foto: Bode

Der Matchplan der Wilhelmsburger: Aus der Tiefe auf schnelle Umschaltmomente zu setzen und hinten sicher und stabil zu stehen. „Das haben wir gemacht, gut verteidigt und übers ganze Spiel gesehen relativ wenig zugelassen“, befand Sager, der nach Abpfiff auch lobende Worte von seinem Gegenüber erhielt: „Die haben sich in alles reingeschmissen und alles investiert, um das eigene Tor zu verteidigen und hier was mitzunehmen. Und dann ist es am Ende auch nicht unverdient. Trotzdem müssen wir uns das selbst zuschreiben“, war Seeliger „not amused“ – und fügte an: „In den ersten 45 Minuten haben wir viel zu langsam gespielt. Auch wenn wir die Chancen hatten, war das einfach zu wenig.“

"Manchmal kann man sich das einfach nicht erklären"

Mou Bachir (re.) - hier im Kampf um den Ball mit Mattia Maggio - erzielte nicht nur das Führungstor, sondern rieb sich auch in jedem Duell auf. Foto: Bode

Beim 0:1 habe man „nicht gut ausgesehen“, ärgerte er sich. „Natürlich war das gut gespielt, aber das darf so nicht passieren“, konnte Bektesi sträflich frei durchs Zentrum marschieren, ehe sich Bachir an seinem Widersacher vorbei stahl. „Manchmal kann man sich das einfach nicht erklären. Es gibt so Tage, wo man das Gefühl hat, man macht heute nie ein Tor. Mir hat die letzte Überzeugung im Letzten Drittel gefehlt. Und in der letzten Konsequenz waren wir einfach zu ungenau“, raubten die kämpfenden Wilhelmsburger den „Wendelweglern“ jeglichen Spaß. Türkiye-Torsteher Tobias Braun strahlte an alter Wirkungsstätte die gewohnte Sicherheit aus und fischte jeden Ball aus der Luft.

"Ein Schuss vor den Bug"

Schluss! Der Frust unmittelbar nach Abpfiff saß nicht nur bei Dassendorf-Torjäger Martin Harnik tief. Mit dieser Niederlage war im Vorfeld nicht zu rechnen. Foto: Bode

„Heute sind wir alle enttäuscht“, machte Seeliger keinen Hehl daraus. „Aber vielleicht war das mal ein Schuss vor den Bug, dass man merkt, dass es auch andere Mannschaften gibt, die Fußball spielen können und man selbst immer ans Limit gehen muss, um zu gewinnen. Ich will den Jungs nicht absprechen, dass sie nicht gewollt haben, aber wir haben nicht immer die richtigen Entscheidungen getroffen“, ärgerte er sich, dass die Stimmung beim Einstandsabend wohl leicht getrübt sein dürfte. Während Türkiye-Verteidiger Oguz Koras direkt nach Abpfiff die Hände vors Gesicht schlug und sein Erstaunen zum Ausdruck brachte: „Das gibt‘s nicht – wie kann man hier gewinnen?!“ Wenn man als Mannschaft an das Unmögliche glaubt, versetzt dieser Glaube eben manchmal auch Berge…

Autor: Dennis Kormanjos